Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

Diese Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; wir veröffentlichen alles, was uns die Referierenden zur Verfügung stellen. Die Dokumentationsrechte für ganze Texte liegen bei den Urheber:innen. Bitte beachten Sie die jeweiligen Sperrfristen.

 

Sperrfrist
Fr, 09. Juni 2023, 09.30 Uhr

Fr
09.30–10.30
Bibelarbeiten am Freitag | Bibelarbeit
Bibelarbeit | Lukas Amstutz
Was jetzt am Tage ist | 1 Mose 50,15-21
Lukas Amstutz, Co-Präsident Konferenz der Mennoniten, Liestal/Schweiz

Geschätzte Mitmenschen

Liebe Geschwister in Christus

I.

Schön, dass Sie sich Zeit für diese Bibelarbeit nehmen. So ein Kirchentag besteht ja massgeblich aus der sprichwörtlichen Qual der Wahl. Keine Ahnung, nach welchen Kriterien Sie sich just für diese Veranstaltung entschieden haben. 

Wie auch immer - gelandet sind Sie bei einem Mennoniten aus der Schweiz, der an diesem Deutschen Evangelischen Kirchentag eine Bibelarbeit hält. Das klingt nun vorerst nicht besonders aufregend, ist es auch nicht – Gott sei Dank! Ganz selbstverständlich ist es dann aber auch wieder nicht. Denn wer mit der Kirchengeschichte etwas vertraut ist, weiss: Die Beziehung zwischen Evangelischen Kirchen und den Mennoniten ist historisch gesehen, gelinde gesagt, kompliziert. 

Als vor 500 Jahren die Reformation ihre Kreise zog, gab es innerhalb dieser reformatorischen Familie Konflikte. Darüber, was und wie Kirche sein soll, gab es unterschiedliche Meinungen und heftigen Streit. Die Täuferbewegung, zu der sich heutige Mennoniten zählen, geriet mit ihren Kirchenträumen zunehmend als Schwärmer, Ketzer und gefährliche Spinner unter Druck. Verachtungsvoll wurden die einstigen Glaubensgeschwister als „Pest“, „Unkraut“ und „verdorbene Menschen“ bezeichnet [1]. Es blieb letztlich nicht bei unschönen Worten. Über Jahrhunderte wurden Täuferinnen und Täufer verhaftet, enteignet, vertrieben und getötet – immer auch mit dem Segen der offiziellen (evangelischen) Kirche. 

Die Geschichte lehrt uns also: Ein Mennonit auf einem Evangelischen Kirchentag ist vielleicht doch nicht so selbstverständlich, wie es uns heute scheint. Diese für uns geltende Normalität ist möglich geworden, weil Menschen um Christi Willen Schritte gewagt haben, die Erinnerungen geheilt und Versöhnung ermöglicht haben. 

Keine Sorge: Sie haben sich hier nicht in ein kirchengeschichtliches Seminar verirrt. Aber dieser Ausflug in die Reformationsgeschichte führt uns direkt zu dem Bibeltext, der uns für den heutigen Tag zugefallen ist. Ich lese uns den Text aus dem ersten Buch Mose, Kapitel 50, die Verse 15-21. Ich halte mich dabei an die Übersetzung, die für diesen Kirchentag vorgelegt wurde (II.).

III.

Diese Szene gehört zum Schluss der Josefsgeschichte, eine der längsten zusammenhängenden Erzählungen in der Bibel. Wer Geschichten mit Happy End liebt, ist hier goldrichtig. Schon beinahe kitschig endet eine Familiengeschichte, die in einem dramatischen Auf und Ab verlaufen ist. Immer wieder kommt es dabei zu unerwarteten Wendungen. Auch am Schluss. Denn wer die ganze Geschichte kennt, wundert sich vielleicht über unseren Text. 

Bereits fünf Kapitel vorher wird uns nämlich eine hochemotionale Szene geschildert: Der totgeglaubte Josef gibt sich seinen nichtsahnenden Brüdern als zweitmächtigster Mann in Ägypten zu erkennen. Es folgen ein tränenreiches Wiedersehen mit dem Vater und, dank einer überaus grosszügigen Willkommenskultur des Pharaos, der Umzug der gesamten Familie aus dem hungersnotgeplagten Israel nach Ägypten. Für die wiedervereinte Familie steht einer glücklichen Zukunft in der Fremde nichts mehr im Wege. 

Wenn es einfach um eine rührende Geschichte ginge, wäre auch dies ein schönes Ende. Aber die Geschichte ist eben noch nicht fertig. Im Gegenteil, sie holt ihre Protagonisten noch einmal so richtig ein. Auslöser dafür ist der Tod des Vaters. Als Jakob stirbt, gerät das Familiensystem erneut gehörig ins Wanken. Vor allem Josefs Brüder befürchten, dass es mit der friedlichen Familienharmonie nun vorbei sein könnte. Vielleicht hat Josef sich ja nur dem Vater zuliebe zurückgehalten, sich bei seinen Brüdern für das erlittene Unrecht so richtig zu rächen. Angesichts der Machtfülle ihres Bruders sind dies mehr als schlechte Aussichten. Drängender als je zuvor stellt sich ihnen die Frage: Wie leben wir als Brüder mit unserer Konfliktgeschichte dauerhaft miteinander? Ist ein friedliches Miteinander angesichts der Vorgeschichte überhaupt möglich?

Unser Bibeltext drängt dazu die ganze Josefsgeschichte von ihrem Ende her zu lesen. Sie führt uns damit an den Punkt, an den Konfliktgeschichten meist irgendeinmal führen: Es stellt sich die Frage nach der Zukunft des Zusammenlebens in und vor allem nach einem Konflikt. Eine Frage, die sich Konfliktparteien entweder direkt stellt oder zumindest deren Nachfahren. Irgendeinmal kommt der Punkt, an dem zerstrittene Parteien an einen Tisch sitzen müssen. Immer neue Eskalationsstufensind keine Optionen für einen dauerhaften Frieden. Das unheilvolle „Wie du mir, so ich dir-Prinzip“ muss irgendwie durchbrochen werden, wenn es eine gemeinsame Zukunft geben soll. Egal ob bei Familienstreitigkeiten oder einem Krieg: Wie gestalten wir einen Konflikt, wenn wir ihn vom Ende her betrachten?

 

Als Teil der Erzelterngeschichte bietet sich die Josefserzählung unweigerlich an, zunächst eigene Familien- und Beziehungserfahrungen zu reflektieren. Denn mit der hier geschilderten Dynamik dieses Familiensystems können sich bis heute viele Menschen recht schnell identifizieren: Lieblingskinder und der Kampf um die Gunst der Eltern, Geschwisterrivalitäten bis hin zu Übergriffen, Träume und Albträume, unterschiedliche Karriereverläufe, Aussprache und Versöhnung - es fehlt wahrlich nicht an Anknüpfungspunkten für moderne Lebenswelten. Unsere Überlegungen müssen sich dabei allerdings nicht auf das familiäre Umfeld beschränken. 

Die Exegese hat gezeigt, dass sich hinter dieser Familiengeschichte ein grösserer Konflikt verbergen könnte. Da Josef und Juda in der gesamten Erzählung die wichtigsten Figuren sind, verarbeitet die Geschichte möglicherweise einen innerisraelitischen Konflikt zwischen dem Nordreich (Josef) und dem Südreich (Juda). Und in der Tat zeigen sich bei sowohl bei der Niederlage des Nordreichs Israel (722 v. Chr.) als auch beim Niedergang des Südreichs Juda (587 v. Chr.) auffällige Bezüge zu der Josefsgeschichte.

Einen Konflikt vom Ende her zu denken, muss daher nicht auf einen engen familiären Kontext reduziert bleiben. Gerade die Josefsgeschichte regt dazu an, auch Konflikte zwischen grösseren Gruppen mitzudenken. Der eingangs erwähnte Konflikt innerhalb der Reformationsbewegung gehört da ebenso dazu, wie der aktuelle Krieg in der Ukraine oder anderswo.

IV.

Kehren wir zurück zu unserem Text. In ihrer Angst vor dem, was da kommen könnte, packen Josefs Brüder den Stier an den Hörnern. Sie beauftragen Boten, Josef eine Versöhnungsbitte ihres verstorbenen Vaters zu überbringen. In der Auslegungsdiskussion gibt es Zweifel, ob Jakob diesen Versöhnungswunsch tatsächlich so geäussert hat. Werden dem toten Vater hier nicht bloss Worte in den Mund gelegt, um Josef damit emotional zu beeinflussen? 

Die Brüder stehen in der Geschichte gewissermassen unter einem Generalverdacht. Kein Wunder: Wer erwartet schon von Menschen, die den eigenen Bruder verkaufen und diese Tat vor dem eigenen Vater mit einer perfiden Lüge verschleiern, etwas Gutes? Wer einmal in der Rolle des Bösewichts steckt, kommt da nur schwerlich wieder heraus. Wer gut und wer böse ist, wird schnell endgültig festgelegt. Dabei fordert doch gerade die Josefsgeschichte eine differenziertere Betrachtung. 

Ganz ehrlich: Dieser Josef ist für mich eine sehr ambivalente Figur. Und sympathisch ist er mit auch nur bedingt. Seine Rolle als Papas Lieblingskind ist zeitweilig nur schwer zu ertragen. Der damit verbundene Geschwisterneid lässt sich doch gut nachvollziehen. Und als der 17-jährige Josef mit seinen Träumereien aufkreuzt, kann ich die aufkeimende Wut der Brüder durchaus verstehen. Denn bescheiden sind diese Träume wahrlich nicht. In einem ersten Traum verneigen sich die Garben der Brüder vor Josefs Garbe. Nicht besser der zweite Traum: Sonne, Mond und elf Sterne verneigen sich tief vor Joseph. Für die Brüder ist klar: Jetzt ist der Kleine ganz übergeschnappt, der Grössenwahn hat ihn gepackt! Selbst seinem Vater Jakob wird dieses Gehabe allmählich zu bunt.

Nein, einfach vom „guten Josef“ und den „bösen Brüdern“ zu reden, ist mir viel zu einfach. Dieser Konflikt hat viele Facetten. Dazu gehört auch, dass die Josefsgeschichte Teil einer grösseren Familiengeschichte ist. Und auch die ist von komplexen Konfliktspiralen geprägt. Denken Sie nur an Josefs Vater Jakob. Seit Geburt hat sich dieser mit seinem Bruder Esau gestritten und sich schliesslich den väterlichen Segen listig erschlichen. Auf der Flucht vor seinem Bruder wird Jakob dann seinerseits von seinem Onkel Laban betrogen. 

Josef selbst wächst in einer „Patchwork-Familie“ auf. Zehn seiner Brüder stammen aus Jakobs Ehe mit Lea. Joseph und sein Bruder Benjamin dagegen wurden von Rahel, Jakobs zweiter, seiner Lieblingsfrau, geboren. Auch die Beziehung zwischen diesen beiden Frauen ist von Konflikten belastet. Es gibt in dieser Geschichte immer wieder Episoden, da ist bei isolierter Lektüre eindeutig klar, wer Täter und wer Opfer ist. Im gesamten Erzählbogen fällt mir diese klare Bewertung nicht ganz so einfach. Da sind Menschen in sehr komplexer Weise in eine Geschichte von Segen, aber eben auch von Schuld und Unrecht verwoben. 

 

Auch hier lassen sich Verbindungen zur eingangs erwähnten Reformationsgeschichte ziehen. Wer die Geschichte des Täufertums betrachtet, kann hier unschwer Opfer kirchlicher Repression und Machtpolitik identifizieren. 

Es ist zuweilen unerträglich, was Menschen, die „mit Ernst Christen sein wollten“, im Namen der Kirche angetan worden ist. Das haben viele evangelische und auch katholische Christinnen und Christen immer wieder erkannt. Von verschiedensten Seiten wurden Mennoniten denn auch immer wieder um Vergebung für diese Vergehen gebeten. Für meinen Geschmack manchmal etwas gar häufig. Fast so, als würde da auch etwas Angst vor „Rache“, etwa in Form von Sammelklagen und Schadensersatzforderungen, mitschwingen. 

Für den Versöhnungsprozess zwischen evangelischen Kirchen und Mennoniten waren solche Schuldeingeständnisse jedoch wichtig. Es war und ist für uns wichtig zu hören, dass Unrecht und Schuld anerkannt wird. Ebenso wichtig war aber auch die mennonitische Selbstreflexion, die sich nicht nur als Opfer sieht. 

So ist in einem der neuesten Dokumente diesbezüglich zu lesen: „Und wir Mennoniten und Mennonitinnen bekennen, dass auch wir uns schuldig gemacht haben. Wir bekennen uns zur Schuld, dass die Suche nach Lebens- und Gemeinschaftsformen, die sich am Leben Jesu orientieren, in manchen Fällen auch zu selbstgefälliger Besserwisserei und ungerechtfertigten Ansprüchen moralischer Überlegenheit geführt haben. […] Mit dem Zuspruch von Vergebung verpflichten wir uns, die Auswirkungen einer nonkonformistischen Haltung in Vergangenheit und Gegenwart auch kritisch zu hinterfragen.“ [2]

Diese differenzierte Betrachtung der Geschichte, die auch mögliche Eigenanteile an einem Konflikt in Betracht zieht, ist ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg einer gemeinsamen Zukunft.

V.

So weit sind wir in unserem Text noch nicht. Die Brüder lassen Josef die Bitte um Vergebung zukommen: „vergib doch deinen Brüdern das Verbrechen und ihre Verfehlungen.“ Die ganze Geschichte kommt hier zu einem entscheidenden und gleichzeitig sehr heiklen Punkt. Das wird besonders deutlich, wenn wir die Wortbedeutung von „vergeben“ berücksichtigen. Das hebräische Wort nasa meint ursprünglich „aufheben, hochheben, tragen und ertragen.“ Rüdiger Lux hat sicher Recht, wenn er dazu schreibt: „Vergebung besteht aus mehr als nur aus einem lösenden oder erlösenden Wort. Es verlangt von dem, der vergibt, Ungeheuerliches. Er soll das Verbrechen der Brüder, ihre Sünde tragen.“ [3]

Diese Worte machen deutlich, welche Tragweite diese Vergebungsbitte hat. Wer um das Ertragen von erlittener Schuld bittet, kann und darf dies niemals leichtfertig oder gedankenlos tun. Wo dies geschieht, droht Vergebung auf der Suche nach einer möglichst „billigen Gnade“ missbraucht zu werden. Und ganz generell muss hier kritisch gefragt werden, ob solche Vergebungsbitten nicht zu Lasten der Opfer gehen und die Täterschaft leichtfertig entlasten. Gerade eine christliche geforderte Vergebungsbereitschaft muss diesbezüglich kritisch hinterfragt werden. Die Bitte um Vergebung kann nicht mit einer Pflicht zur Vergebung gleichgesetzt werden. Vor allem nicht, wenn Täter:innen die Vergebung in dieser Weise einfordern. 

 

Wie kann ein verantwortungsvoller Weg der Vergebung und Versöhnung aussehen? Der renommierte mennonitische Konfliktforscher John Paul Lederach verweist aus den Erfahrungen seiner Versöhnungsarbeit in Nicaragua gerne auf den Vers aus Psalm 85: „Gnade und Wahrheit sind einander begegnet, Gerechtigkeit und Friede haben sich geküsst.“ Lederach meint: Gnade und Wahrheit – Gerechtigkeit und Friede: Diese vier Begriffe sind zentral für den Weg hin zu Vergebung und Versöhnung. [4]

Der Psalm verwendet die vier Begriffe so, als wären sie lebende Personen. Gnade und Wahrheit können sich begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Und wie wir alle, haben auch diese vier „Personen“ ihre je eigenen Anliegen und wollen entsprechend gehört werden. Das ist nicht konfliktfrei. 

Da ist die Wahrheit. Sie möchte Licht ins Dunkel bringen. Aufdecken, was tatsächlich geschehen ist. Sie hasst es, wenn die Wahrheit vertuscht oder zurechtgebogen wird. Da steht sie auf, klagt an und verschafft sich lauthals Gehör. „Wahrheit ist das erste Opfer des Kriegs“, wird gerne gesagt. Soll die Welt heiler werden, muss die Wahrheit zur Sprache kommen. Sie wird sonst nur allzu gerne auf Kosten der Opfer missbraucht. 

Der Wahrheit gegenüber steht im Psalm die Gnade oder Güte. Sie tut sich schwer, mit der konfrontativen Art der Wahrheit. Sie wünscht sich manchmal etwas mehr Fingerspitzengefühl. Ihr liegen die Menschen und ihre Beziehungen am Herzen. Annahme, Mitgefühl und Unterstützung begleiten sie. Denn die Gnade weiss, wie zerbrechlich die Menschen sind. Ohne Gnade gibt es keine zweite oder dritte Chance. Kein Neubeginn nach Unrecht und Schuld. 

Da meldet sich dann aber auch gleich schon die Gerechtigkeit. Sie will Unrecht in Ordnung bringen. Sie blickt hinter die Kulissen eines Konflikts. Sie spürt bestehende Missstände auf und zeigt, wie verheerend sich Unterdrückung, Gier oder Gewalt auswirken können. Die Gerechtigkeit drängt darauf, dass Menschen für ihre Worte und Taten zur Verantwortung gezogen werden. 

Und dann ist da noch der Friede. Er möchte die anderen Personen zusammenhalten, miteinander verbinden. Der Friede will Raum schaffen, damit Wahrheit, Gnade und Gerechtigkeit zu ihrem Recht kommen. 

 

John Paul Lederach ist überzeugt: Wir müssen uns nicht zwischen den vier Personen aus Psalm 85 entscheiden. Wir müssen anerkennen, dass ihre je eigenen Anliegen rechtmässig sind. Sie müssen alle zu Wort kommen dürfen – ihr jeweiligen Einwände tragen dazu bei, dass Vergebung weder billig noch per se unmöglich wird.

In der Bitte um Vergebung höre ich daher die Bitte um ein Mittragen der Vergangenheit. Auch ohne Vergebung tragen Menschen ja die Folgen des Unrechts. Das gilt in der Josefsgeschichte genauso wie in der bereits mehrfach erwähnten Reformationsgeschichte. Das Unrecht der Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen. Täter und Opfer tragen diese Geschichte sowieso in je eigener Weise mit sich. 

Die Vergebung ist ein Weg, auf dem die Konfliktparteien lernen, ihre Geschichte miteinander zu (er)tragen. Die Vergangenheit wird damit weder verdrängt noch bestimmt sie allein die Zukunft. Sie wird anerkannt, nicht vergessen, soll aber nicht zum Nährboden für neue Eskalationen, Racheakte und Gewalttaten werden. 

Josef und seine Brüder lernen auch in Anerkennung ihrer Geschichte miteinander zu leben. Genauso wie heute evangelische Kirchen und Mennoniten gemeinsam mit ihrer Geschichte versöhnte Wege gehen können. 

Das geht in der Regel nicht von heute auf morgen. Die Josefsgeschichte erzählt uns von einem Reifeprozess, den Josef und seine Brüder durchlaufen. In der Fremde entwickelt Josef eine empathische Seite, die dem überheblichen Träumer am Anfang der Geschichte völlig fremd scheint. Und die Brüder durchlaufen in der Begegnung mit dem ihnen zunächst fremden Josef ebenfalls einen Prozess, der sie nachhaltig verändert. Es braucht diese Zeit, bis die Bitte um Vergebung ernsthaft ausgesprochen werden kann. Dieser Weg kann nicht abgekürzt werden.

VI.

Die Vergebungsbitte der Brüder beantwortet Josef im Text interessanterweise nicht direkt. Da bleibt manches – vermutlich bewusst – offen. Wir hören keinen klaren Vergebungszuspruch seitens Josef. Vielleicht sagen auch hier Taten letztlich mehr als tausend Worte. Josef lenkt den Blick mit einer rhetorischen Frage in eine andere Richtung: „Bin ich etwa an Gottes Stelle?“ Für eine biblische Erzählung kommt Gott in der gesamten Josefserzählung relativ selten vor. Gott bleibt im Hintergrund – vieles scheint „zufällig“, an wenigen Stellen liefert die Erzählung lediglich Hinweise auf Gottes Da-Sein inmitten der turbulenten Ereignisse. 

Wenn Josef jetzt auf Gott verweist, ist dies schon bemerkenswert. Mit den vor ihm knieenden Brüdern vor Augen könnte er Gott leicht für sich in Anspruch nehmen. Erfüllen sich hier nicht gerade seine kühnen Jugendträume? Hat er nicht damals schon gesehen, was sonst niemand sehen wollte oder konnte? 

Josef verzichtet darauf, Gott als Garanten und Legitimation für seine Position zu missbrauchen. Und vor allem verzichtet er darauf, selbst Gott zu spielen. Josef lässt Gott Gott sein und kann sich so gegenüber seinen Brüdern als Mensch und Bruder zeigen. Wo Menschen ihr Leben vor Gott verantworten, ist kein Platz für die Versklavung von Menschen. Für Josef bleiben die Brüder, die sich selbst als Gottes Knechte bezeichnen, am Ende seine Brüder und nicht seine Sklaven.

Dieser Gottesbezug führt in der Josefsgeschichte zur Aussage, die Gerhard von Rad einst als „Höhepunkt des Ganzen“ [5] bezeichnet hat: „Ihr habt mir aus Berechnung Böses angetan, Gott aber hat es umgerechnet zum Guten.“ Wir sollten dieses Fazit aus dem Mund Josefs nicht vorschnell zu einem allgemeingültigen Glaubenssatz machen. Natürlich kann es sehr trost- und hoffnungsreich sein, wenn wir in Irrungen und Wirrungen damit rechnen, dass Gott die Kontrolle über den Lauf der Dinge behält. Ganz im Sinne des Sprichworts: Der Mensch denkt und Gott lenkt. Das ist eine wichtige und teilweise notwendige Korrektur menschlicher Selbstüberschätzung. Dass Gott Mittel und Wege kennt, die menschliches Vermögen übersteigen, haben Menschen quer durch die Jahrhunderte immer wieder erfahren. Es gehört zum Kern des christlichen Glaubens: Das Gelingen unseres Lebens hängt letztlich nicht an uns, sondern an den zurechtbringenden Händen Gottes. Das ist kein billiger Trost, im Sinne von: Kopf hoch, wird schon werden. Hinter dieser Einsicht stecken harte Lebenserfahrungen und daraus gewonnene Lebensweisheit.

Es scheint mir daher wichtig zu betonen, dass es an dieser Stelle Josef ist, der diesen Glaubensrückblick wagt. Aus dem Mund der Brüder könnte die Aussage, dass Gott alles zum Guten wendet, als eine fromme Rechtfertigung der eigenen Taten gegen Josef gedeutet werden. Unrecht würde damit in ungeheuerlicher Weise als ein zu Gottes Plan gehörendes Schicksal. Es gehört für mich zu den berührendsten Glaubenszeugnissen, wenn Menschen an Leid und Not nicht verbittern, sondern darin für sich noch Spuren von Gottes Handeln zu erkennen vermögen. Aber Leid und Not dürfen nie als Teil von Gottes Plan gerechtfertigt oder gar als notwendig interpretiert werden – schon gar nicht von denen, die dafür verantwortlich sind. 

Schliesslich ist festzuhalten, dass Josef hier nicht eine Schlussrechnung für sein Leben vorlegt. Er spricht nicht davon, dass Gott es mit ihm oder für ihn gut gemacht hat. Der Schluss der Geschichte wird nicht zu Josefs grosser Belohnung für all das erlittene Unrecht. Der Fokus dieser theologischen Schlussdeutung liegt auf der Zukunft der Gemeinschaft. Für Josef und seine Brüder gibt es trotz der Konfliktgeschichte eine gemeinsame Zukunft, die das Leben vieler ermöglicht. Sie müssen mit ihrer Schuld leben. Aber – und das ist gute Nachricht – sie können mit ihrer Schuld leben. Sie bleiben nicht darauf festgenagelt, sondern sind in der Lage, ihre Geschichte miteinander zu tragen und ihr Zusammenleben neu versöhnt zu gestalten. 

VII.

Am Anfang der Josefsgeschichte steht der Traum eines pubertierenden Jungen, der meint, alle Welt müsse sich vor ihm verbeugen. Ein Traum der auch in unseren Tagen noch vielfach geträumt wird. Viele, die ihn träumen, gehen für diesen Traum buchstäblich über Leichen. 

Das Ende der Josefsgeschichte wirkt in gewisser Weise auch wie ein Traum. Vielleicht ist er tatsächlich etwas gar kitschig. Aber dieser Traum der Versöhnung hat Menschen immer wieder inspiriert: „Ich habe einen Traum, dass eines Tages die Söhne von früheren Sklaven und die Söhne von früheren Sklavenbesitzern (…) sich am Tisch der Bruderschaft gemeinsam niedersetzen können.“[6] So hat Martin Luther King seinen Traum formuliert. Dafür lebte und starb er. 

Ich glaube, wir brauchen weiter solche Träume in unserer Welt. Menschliches Leben wird immer auch Schuldgeschichten schreiben. Das bedeutet jedoch nicht das Aus aller Versöhnungsträume. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Immer wieder finden Menschen – gerade auch mit Gottes Hilfe – neue Wege zueinander. Von diesem Ende her will ich Konflikte sehen und gestalten. Versöhnung ist möglich. Ein Mennonit auf einem Evangelischen Kirchentag ist dafür ein kleines Zeichen. 

Gerne schliesse ich daher mit den Worten des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber: Es gehört zu den notwendigen Aufgaben der Kirche „in Gemeinschaft mit anderen nach Wegen zu suchen, auf denen Feindschaften abgebaut, Kriege verhütet, Konflikte anders als durch gewaltsame Unterwerfung gelöst werden können.“ [7]

Es ist höchste Zeit, dass wir uns gemeinsam diesen Aufgaben widmen. Gottes Segen begleite uns dabei. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

[1] HULDRYCH ZWINGLI: Schriften IV, Zürich 1995, S. 341–343.

[2] KONFERENZ DER MENNONITEN DER SCHWEIZ: Versöhnend die Wege zu einem Zusammenleben in Frieden suchen. Erklärung der Konferenz der Mennoniten der Schweiz an den Regierungsrat des Kantons Bern, Tavannes 20. April 2019.

[3] RÜDIGER LUX: Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern, Leipzig 2001 (Biblische Gestalten, 1), S. 207.

[4] JOHN PAUL LEDERACH: Vom Konflikt zur Versöhnung. Kühn träumen - pragmatisch handeln, Schwarzenfeld 2016, S. 99–111.

[5] GERHARD von RAD: Das erste Buch Mose. Genesis, Göttingen, Zürich 1987 (ATD, 2/4), S. 355.

[6] Die ganze Rede in deutscher Sprache, Online: https://de.usembassy.gov/de/ich-habe-einen-traum/ [Aufruf am 6. Juni 2023].

[7] WOLFGANG HUBER: Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum Problem des "Feindes" in der Theologie, in: ZEE 26 (1982), 1, S. 128–158, hier S. 157

Verwendete Literatur

JAN-DIRK DÖHLING: 1. Mose/Genesis 50,15-21. Exegetische Skizzen, Kirchentag Nürnberg 2023., S. 33-42.

JÜRGEN EBACH: Genesis 37-50, Freiburg im Breisgau 2007 (HThKAT).

GEORG FISCHER: "Gott hat es zum Guten gedacht". Der weinende Josef als weiser Theologe und Mittler der Versöhnung, in: BiKi 70 (2015), 1, S. 29–34.

WOLFGANG HUBER: Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum Problem des "Feindes" in der Theologie, in: ZEE 26 (1982), 1, S. 128–158.

KONFERENZ DER MENNONITEN DER SCHWEIZ: Versöhnend die Wege zu einem Zusammenleben in Frieden suchen. Erklärung der Konferenz der Mennoniten der Schweiz an den Regierungsrat des Kantons Bern, Tavannes 20. April 2019.

JOHN PAUL LEDERACH: Vom Konflikt zur Versöhnung. Kühn träumen - pragmatisch handeln, Schwarzenfeld 2016.

RÜDIGER LUX: Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern, Leipzig 2001 (Biblische Gestalten, 1).

EUGENE F. ROOP: Genesis, Scottdale, PA 1987 (Believers Church Bible Commentary).

GERHARD von RAD: Das erste Buch Mose. Genesis, Göttingen, Zürich 1987 (ATD, 2/4).


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